Beschlüsse Kinder

Bei Rückführung von Kindern Ein-Jahres-Frist beachten

23.04.2012

Wird ein Kind von unter 16 Jahren widerrechtlich in einen anderen EU-Staat gebracht oder dort zurückgehalten, kann seine Rückführung angeordnet werden. Voraussetzung ist, dass seit Eingang des Antrages bei Gericht noch kein Jahr vergangen ist. Bei Versäumen dieser Jahresfrist kann eine Rückführung trotzdem erfolgen, wenn sich das Kind noch nicht in die neue Umgebung eingelebt hat.

Diese Regelung hat insbesondere für binationale Ehen praktische Konsequenzen. So hatte das Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) einen Fall zu entscheiden, bei dem es um das Kind einer mit einem Belgier verheirateten Deutschen ging. Einige Zeit nach der Trennung zog die Mutter 2010 mit der Tochter von Belgien zurück nach Deutschland. Der Vater wollte die Rückkehr seines Kindes nach Belgien erreichen. Er reichte beim zuständigen Jugendgericht in Belgien einen Sorgerechtsantrag ein. Das Gericht übertrug im Juli 2011 das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Vater. Gegen diese Entscheidung legte die Mutter Berufung ein, wobei eine abschließende Entscheidung noch aussteht.

Unterdessen hatte die Mutter dem Vater mitgeteilt, dass die Tochter ab September 2010 in Deutschland in den Kindergarten gehen werde. Der Vater erwiderte, dass ein Einvernehmen hinsichtlich des Kindergartenbesuches in Deutschland niemals erzielt worden sei. Mit der gegenwärtigen Situation sei er jedenfalls nicht einverstanden. In der Folgezeit befand sich das Kind gelegentlich beim Vater. Den geplanten Weihnachtsumgang 2010 sagte die Mutter ab, da zuvor die rechtliche Situation durch das belgische Gericht geklärt sein müsse. Im Februar 2011 besuchte das Kind den Vater für zwei Wochen, ebenso in den Ferien. Im September 2011 reichte der Vater bei der zuständigen zentralen Behörde in Belgien einen Rückführungsantrag ein. Am 19. Dezember 2011 stellte er beim Familiengericht Stuttgart einen Herausgabeantrag zum Zwecke der Rückführung seiner Tochter nach Belgien.

Das Oberlandesgericht Stuttgart lehnte den Antrag des Vaters ab. Es habe zwar ab September 2010 ein so genanntes widerrechtliches Zurückhalten vorgelegen. Durch die Ferienaufenthalte des Kindes beim Vater sei dieses Zurückhalten allerdings beendet worden. Der am 19. Dezember 2011 eingegangene Rückführungsantrag habe die Jahresfrist nicht gewahrt. Ist der Rückgabeantrag nach Ablauf der Jahresfrist eingegangen, so sei die Rückgabe des Kindes allerdings trotzdem noch anzuordnen, wenn nicht erwiesen ist, dass sich das Kind in seine neue Umgebung eingelebt habe. Ein solches Einleben sei anzunehmen, wenn das Kind sich in seinem unmittelbaren familiären und sozialen Umfeld in stabilen, seinen Bedürfnissen und seinem Wohl entsprechenden Verhältnissen befinde. Das Kind müsse mit dem neuen Wohnort und den Bezugspersonen verbunden und verwachsen und in seinem neuen Freundes- und Verwandtschaftskreis verwurzelt sein. Ein Bruch mit der bestehenden Umgebung müsse vollkommen unzumutbar sein. Im Rahmen der Gesamtabwägung komme es dabei auf den Zeitpunkt der Entscheidung und nicht des Antragseinganges an, weil es letztlich um die veränderte Lage des Kindes gehe.

Nach Überzeugung der Richter hat sich das Kind im vorliegenden Fall in seiner neuen Umgebung vollständig eingelebt. Es habe sich altersgemäß entwickelt, verfüge über ausreichende verwandtschaftliche Kontakte zu den Großeltern und zu der Cousine, mit der es gemeinsam den Kindergarten besuche. Ebenso bestünden freundschaftliche Kontakte zu Kindern in seinem Alter. Unter Beibehaltung der bisherigen Umgangskontakte zum Vater wünsche sich die Tochter, ihren Lebensmittelpunkt bei ihrer Mutter zu haben. Auch wenn die Äußerungen kleinerer Kinder nicht frei von Einflussnahmen der jeweiligen Bezugspersonen seien, so habe die Tochter doch hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie ihren Daseinsschwerpunkt nunmehr am Wohnort der Mutter habe. Auf Grund der sozialen Integration in Deutschland komme eine Rückführung daher nicht in Betracht.

Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 23. April 2012 (AZ: 17 UF 35/12