Beschlüsse Kinder

Kindeswohlgefährdung durch Überforderung des Kinds – teilweiser Entzug des Sorgerechts gerechtfertigt

07.02.2022

Karlsruhe/Berlin (DAV). Überfordern Eltern ein Kind massiv und andauernd, stellt dies unter Umständen eine so gravierende Kindeswohlgefährdung dar, dass dem Elternteil das Sorgerecht mindestens teilweise entzogen werden kann.

Bei dem Mädchen war schon in der Grundschule ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen festgestellt worden. Verschiedene Testungen ergaben einen IQ von rund 70. Trotzdem schickte die Mutter ihre Tochter nach der Grundschule auf das Gymnasium. Das Mädchen wurde dort aufgrund erheblicher Konflikte dauerhaft vom Unterricht ausgeschlossen. Anschließend besuchte sie eine Realschule Plus, wo sie täglich drei Stunden beschult wurde. Auch dort setzten sich die Konflikte fort.

Das Jugendamt sah eine Kindeswohlgefährdung und wandte sich deswegen 2018 erstmals an das Familiengericht. 2020 entzog das Gericht der Mutter das Sorgerecht für ihre Tochter teilweise. Das betraf unter anderem die Regelung schulischer Belange und die Gesundheitssorge.

Wann ist teilweiser Sorgerechtsentzug möglich?
Die Beschwerde der Mutter dagegen wies das Oberlandesgericht ab. Das körperliche und seelische Wohl des Mädchens sei nachhaltig gefährdet. Weniger einschneidende Maßnahmen seien daher nicht geeignet, die Gefahr abzuwehren.
Trotz aller gegenteiligen Ratschläge der Fachleute übe die Mutter massiven Leistungsdruck bis hin zu körperlichen Übergriffen auf die Tochter aus. Diese sei permanent überfordert, traurig, verzweifelt, ohne jegliche Lebenslust und habe bereits Suizidgedanken geäußert. Die Mutter sei nicht bereit oder in der Lage, ihre eigene Sichtweise zu überdenken. Die angebotenen Hilfestellungen habe sie alle abgelehnt oder abgebrochen. Damit habe sie gezeigt, dass sie nicht ansatzweise in der Lage sei, die Bedürfnisse und Fähigkeiten ihres Kinds zu erkennen und entsprechend zu handeln. Zudem könne sie die Empfehlungen von Fachkräften nicht annehmen, reflektieren und umsetzen.

Die Frau wandte sich an das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht nahm ihre Verfassungsbeschwerde jedoch nicht zur Entscheidung an: Die Richter schlossen sich der Argumentation des Oberlandesgerichts an. Diese sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Körperliches und seelisches Wohl durch Verhalten der Mutter gefährdet
Die Kindeswohlgefährdung resultiere gerade nicht vornehmlich aus den Beeinträchtigungen der Tochter, sondern wesentlich aus dem Verhalten der Mutter. Ihr Verhalten verhindere, dass ihre Tochter Förderung, Unterstützung und einen zieldifferenten Unterricht erhalten könne.

Ein Kind habe Anspruch auf Schutz des Staates. Vor diesem Hintergrund sei der Sorgerechtsentzug in seinem gesamten Umfang verhältnismäßig und vor allem auch erforderlich. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlange, vor jedem Sorgerechtsentzug wegen Kindeswohlgefährdung zu prüfen, ob man der Kindeswohlgefährdung nicht auf andere Weise begegnen könne. Gehe es um den Entzug des Rechts der Schulwahl erfordere dies die Prüfung, ob nicht weniger einschneidende Jugendhilfemaßnahmen, schulische Angebote oder andere Hilfen verfügbar sind, die eine Abwehr der Kindeswohlgefährdung ermöglichten. Im Falle eines Kinds mit Behinderung müsse insbesondere auf Hilfen zur Integration oder Inklusion behinderter Menschen geachtet werden. Dem trage die Entscheidung des Oberlandesgerichts Rechnung.

Bundesverfassungsgericht am 14. September 2021 (AZ: 1 BvR 1525/20)