Beschlüsse Kinder

Mutter entführt Söhne nach Bedrohung durch Ehemann: Keine Rückführung

11.07.2023

(red/dpa). Entführt ein Elternteil das gemeinsame Kind in einen anderen Staat, kann er gerichtlich verpflichtet werden, das Kind zurückzuführen. In besonderen Fällen kann eine solche Rückführung allerdings auch ausgeschlossen werden.

Die Eltern lebten mit ihren Söhnen seit deren Einschulung in der Türkei. Inzwischen läuft ein Scheidungsverfahren. Im Dezember 2021 zog die Mutter ohne Zustimmung des Vaters mit beiden Kindern nach Deutschland.

Der Vater beantragte beim Amtsgericht die Rückführung seiner Söhne in die Türkei. Die Frau erklärte, ihr Mann habe ein Alkoholproblem. Dies sei bereits mehrfach Grund für Trennungen gewesen. Schließlich habe er sie verdächtigt, ein Verhältnis zu haben. Er habe sie beschimpft, mit einer Waffe bedroht und auch abgedrückt. Die Waffe sei nicht geladen gewesen.

Die Richter entschieden dennoch zugunsten des Mannes und verpflichteten die Frau, die beiden Kinder innerhalb von zwei Wochen in die Türkei zurückzubringen.

Hohe seelische Belastung der Kinder – keine Rückführung
Die Beschwerde der Frau dagegen war erfolgreich. Das Gericht in zweiter Instanz entschied, dass die Mutter mit ihren Söhnen in Deutschland bleiben könne. Die Richter begründeten dies mit der der hohen seelischen Belastung, der die Kinder bei einer Rückkehr ausgesetzt wären.

Bereits im Rahmen ihrer erstinstanzlichen Befragung hätten beide Kinder von ihrer großen Angst vor dem Vater berichtet und betont, nicht in die Türkei zurückzuwollen. Die Verfahrensbeiständin der beiden Kinder hatte beschrieben, der eine Junge habe während des Gesprächs mit den Tränen gekämpft, sein Gesicht immer wieder in einem Sofakissen vergraben und sich vor- und zurückgewiegt. Nach der Entscheidung des Amtsgerichts sei die Angst der Kinder noch größer geworden. Der eine Junge berichtete, er habe gedacht, einen Herzinfarkt zu bekommen.

Entführung der Kinder in ein anderes Land aus Angst vor dem Vater
Den Gedanken einer Aufnahme von Mutter und Kindern in einem türkischen Frauenhaus verwarfen die Richter: Dies würde den zu befürchtenden seelischen Schaden der beiden Jungen nicht abwenden. Denn die Kinder hätten unter anderem Angst davor, ihr Vater könne sie in der Türkei finden. Diese Ängste seien für die Kinder psychische Realität. Sie bestünden genauso, würde die Familie in einem Frauenhaus aufgenommen. „Nur durch die – letztlich durch die Entführung geschaffene – Distanz zum Kindesvater haben die Kinder die nötige Sicherheit, dass ihrer Mutter nichts passieren wird.“

Die Richter beriefen sich auf das Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ). Dessen Zweck ist es, Kinder zu schützen, die widerrechtlich in einen anderen Staat gebracht wurden. Das HKÜ besagt auch, dass das Gericht oder die Verwaltungsbehörde nicht verpflichtet ist, die Rückgabe des Kinds anzuordnen, wenn „die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist“ (Art. 13 Abs. 1b HKÜ). Dieser Ausnahmetatbestand liege hier vor.

Oberlandesgericht Bremen am 19. Dezember 2022 (AZ: 4 UF 69/22)